Montag, 9. Dezember 2013

Körper heilt Seele

Neurowissenschaftler entdecken das Meditieren als Mittel gegen Stress, Angststörungen und Depressionen. Sich mit dem Geist zu befassen, führt gemäss ausführlichen Studien zu erstaunlichen (und positiven) Veränderungen im Gehirn.

Das Zähneputzen hat in einer Berliner Wohnung seit neuestem etwas Meditatives. Die 32-jährige Bewohnerin läuft nicht mehr hektisch mit der Bürste durch die Zimmer, um gleichzeitig andere Dinge zu erledigen, sondern sie hat die Reinigung zu einem Ritual gemacht. "Ich versuche zu erfassen, wie die Zahnpasta schmeckt und wie sich die Borsten auf dem Zahnfleisch anfühlen", sagt Hedwig Müller*, eine Studentin.

Sie hat bewegte Zeiten hinter sich. Als sie vor einigen Wochen endlich ihre Magisterarbeit fertigstellen wollte, litt sie plötzlich an einer Schreibblockade. Die junge Frau fühlte sich erschöpft und ging zum Hausarzt. Der verschrieb ihr Escitalopram, einen Wirkstoff gegen Depressionen, und stellte ihr eine Bescheinigung aus, dass sie die Magisterarbeit aus medizinischen Gründen nicht fristgerecht abliefern könne.

Es war in diesen Tagen, als Hedwig Müller den Aushang im Supermarkt sah. Darin wurden Menschen mit Antriebsstörungen und depressiven Verstimmungen gesucht, die statt Pillen ein ungewöhnliches Mittel ausprobieren sollten: Meditation. "Ich war überrascht, dass die Meditation helfen soll", sagt Müller. Zu Beginn der Studie ließ sie ihr Gehirn per Elektroenzephalograf und Kernspin von Psychologen der Freien Universität und der Charité Berlin untersuchen, dann übte sie die sogenannte Achtsamkeitsmeditation. Unterstützt durch Audio-CD und Handbuch meditiert sie jeden Tag. Sie bemüht sich, das Hier und Jetzt ganz bewusst zu erfassen - so auch beim Zähneputzen. 

Was sie beim Meditieren empfindet, das soll sie nicht bewerten, sondern offen und neugierig betrachten. Die ungewohnte Arbeit mit dem Geist mache Spaß, erzählt Müller. Ob sie ihr medizinisch hilft, das wird sie nach Abschluss der Studie wissen. Doch die Chancen stehen gut. Das geht aus einer Meditationsstudie mit 22 depressiven Frauen und Männern in Tübingen hervor. Zu den Probanden gehörte Thomas Schröder(*). Der schwäbische Familienvater, Mitte vierzig, hatte zuvor drei Krankheitsphasen erlebt, die so schwer waren, dass er wochenlang nicht aus dem Haus ging.

Schröder und die anderen Probanden lernten acht Wochen lang sanfte Yoga-Übungen sowie die Achtsamkeitsmeditation. Anfangs hatte Schröder, ein promovierter Arzt, seine Zweifel: Er fühlte sich der reinen Schulmedizin verpflichtet. Mit Meditation hatte er sich nie beschäftigt. Nun saß er im Lotossitz und dachte: Was mache ich hier? Doch je länger er die Arbeit mit dem Geist betrieb, desto besser gefiel sie ihm. Der Mediziner ist wieder in seinem alten Job tätig, als Produktmanager einer Firma für Krankenhausbedarf.
 
Er braucht keine Medikamente mehr - er meditiert jeden Tag. Was ihm da widerfahren ist, das hat Schröder im Fachblatt "Psychiatry Research" nachgelesen, in dem die Studie veröffentlicht wurde: Die Meditation hat die Biologie seines Gehirns verändert. Die federführenden Psychologen Vladimir Bostanov und Philipp Keune haben das entdeckt, indem sie das Gehirn der Probanden vor und nach dem Meditationskurs neurophysiologisch untersuchten. Sie spielten ihnen bestimmte Töne vor und maßen die elektrische Aktivität der Hirnzellen. Das Ergebnis: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe reagierte das Gehirn nach dem achtwöchigen Meditationskurs deutlich stärker auf die akustischen Reize. Es hatte gelernt, nicht mehr andauernd zu grübeln - und brachte die frei gewordenen Ressourcen den Tönen entgegen.

Die Messkurven des Elektroenzephalogramms passen wunderbar zu den Erfahrungen Schröders und der anderen Studienteilnehmer. Viele von ihnen können endlich wieder klar denken. "Das Meditieren hilft den Patienten, ihre Aufmerksamkeit zu steuern", sagt Keune. "Dadurch verlieren sie sich weniger häufig in negativen Gedanken." Wie Keune erforscht auch die junge Psychologin Bethany Kok die heilende Kraft des Geistes. Die US-Amerikanerin untersucht den sogenannten Vagusnerv. Der läuft vom Hirnstamm den Hals entlang durch die Brusthöhle bis zu den Eingeweiden und endet in vielen Verästelungen (sein Vagabundieren hat ihm den Namen "Vagus" eingebracht). Er versorgt die äußeren Gehörgänge, den Schlund, den Kehlkopf, die Lunge, den Magen, den Darm und das Herz.
 
Beim Einatmen schlägt das Herz oftmals etwas schneller als beim Ausatmen. Dieser Unterschied ergibt den Spannungszustand des Vagusnervs. Ein hoher Tonus bürge für eine geregelte Verdauung, sagt Bethany Kok, und helfe beim Orgasmus. Auch sei er unverzichtbar für soziale Kontakte. Der Blick in die Augen, das einfühlsame Lächeln und das zustimmende Nicken - all das laufe ebenfalls über den Vagusnerv. Wäre es nicht großartig zu erfahren, wie man den Tonus dieses Tausendsassas erhöhen kann? Zusammen mit Kollegen der University of North Carolina in Chapel Hill unternahm Kok ein Experiment: Neun Wochen lang notierten 65 Frauen und Männer jeden Abend auf einem Fragebogen die guten und die schlechten Gefühle und Erlebnisse des Tages. Zusätzlich absolvierte die Hälfte von ihnen einen Meditationskurs, der Gefühle wie Liebe, Wohlwollen und Mitgefühl förderte. Das Ergebnis hat die Gruppe um Kok im Fachblatt "Psychological Science" präsentiert: Im Unterschied zur Kontrollgruppe ist der Vagotonus der Meditierenden deutlich gestiegen. "Wer sich mit guten Gefühlen versorgt, der verbessert den Tonus des Nervus vagus", sagt Kok, die mittlerweile ans Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig gewechselt ist. "Das wiederum ist mit guter Gesundheit verbunden - und könnte zu einem längeren Leben führen." Es sei der Geist, der sich den Körper baue, schrieb Friedrich Schiller einst in seinem Drama "Wallenstein". Zug um Zug erkennt die Meditationsforschung, wie richtig der Dichter - und examinierte Arzt - damit lag: Die Seele kann den Leib verändern.

Die Erkenntnis befreit die Meditation vom Ruch des Esoterischen. Ihre Erfolge sind verbunden mit messbaren Veränderungen im Gehirn. An vielen Universitätskliniken machen Psychologen und Ärzte sich daran, aus dem Buddhismus und dem Hinduismus stammende Meditationstechniken mit der modernen Medizin zu vereinen. Mönche und Yogis zeigen, wie man auf dem Weg ins Nirwana zugleich auch Erkrankungen behandeln kann.
Niemand behauptet, man könne Krankheiten gleichsam wegdenken. Jedoch hat das Meditieren einen Einfluss auf die Gesundheit, den Ärzte und Psychologen bisher viel zu selten nutzten.

Nun aber wächst die Zahl der Veröffentlichungen zum medizinischen Meditieren exponentiell. "Das Feld plätscherte lange Zeit dahin. Doch jetzt verhelfen ihm die Neurowissenschaften zu einem Boom", sagt Ulrich Ott vom Bender Institute of Neuroimaging der Universität Gießen. Ob Yoga, Tai-Chi, Qigong oder Achtsamkeit - das Meditieren sei nicht mehr auf religiöse Kontexte beschränkt: "Es wird in Kliniken zur Behandlung von Patienten eingesetzt, denen es um eine Besserung ihrer Symptome geht und nicht um spirituelle Erleuchtung."

In seinem Buch "Meditation für Skeptiker" erklärt Ott den Weg zum Selbst: Meditieren diene dazu, "das Bewusstsein zu erweitern und sich von eingefahrenen Denkmustern und Verhaltensweisen zu lösen". Jeder könne lernen, das innere Befinden "in Richtung Ruhe und Gelassenheit zu verändern". Und das wirkt besser als manche Medizin: Am Massachusetts General Hospital im amerikanischen Boston setzten 15 Frauen und Männer ihren Geist wie eine Arznei ein. Sie waren anfangs verspannt, schlafgestört und geplagt von Sorgen. Generalisierte Angststörung lautete ihre Diagnose. Acht Wochen lang nahmen sie an einem Kurs zur Achtsamkeitsmeditation teil. Und der tat ihnen gut: Sie konnten ihre Ängste besser beherrschen und fanden wieder mehr Schlaf.

Das Gehirn war auf wohltuende Weise verwandelt, wie die Untersuchung im funktionellen Kernspin offenbarte: Nach dem Meditieren waren Teile der vorderen Hirnrinde (präfrontaler Kortex) verstärkt durchblutet - also genau jene Areale, die für das Regulieren von Gefühlen wichtig sind. Überdies erschien die Verbindung zwischen präfrontalem Kortex und dem Angstzentrum des Gehirns, der Amygdala, stärker ausgeprägt als bei Vergleichspatienten, die nicht meditiert hatten. 

Die Psychologin Britta Hölzel konnte im Gehirn-Scanner gleichsam zugucken, wie das Meditieren die Angst vertrieb. "Der präfrontale Kortex nimmt die erhöhte Aktivität der Amygdala wahr, ohne sie zu unterdrücken", sagt Hölzel, deren Studie im Fachblatt "NeuroImage: Clinical" erschienen ist. "Der Mensch lässt die Dinge so sein, wie sie sind. Und genau deshalb ist er nicht mehr so ängstlich und so aufgewühlt."


Von der Achtsamkeit bis zum Zen reichen die Schulen der Meditation. Jeder solle die Technik wählen, die ihm am besten gefalle, rät der Gießener Psychologe Ott. "Bei manchen meditativen Verfahren wie dem Tai-Chi, Qigong, Drehtanz der Sufis, einigen Varianten des Yoga, der Gehmeditation des Zen und der dynamischen Meditation nach Osho stellen Bewegungen des Körpers einen zentralen Aspekt der Methode dar", sagt er. Die stillen Methoden dagegen legten Wert auf das Verharren im Sitzen oder in einer anderen Körperhaltung.

Noch ist nicht erforscht, welche Art der Meditation am besten taugt, aber Ärzte und Psychologen verschreiben häufig die sogenannte Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR), das ist jenes Acht-Wochen-Programm, das Thomas Schröder in Tübingen so gutgetan hat. Dass MBSR in der westlichen Medizin so beliebt geworden ist, liegt an Jon Kabat-Zinn, Jahrgang 1944. Der mittlerweile emeritierte Professor der University of Massachusetts Medical School in Worcester verband Elemente aus dem Buddhismus mit der westlichen Naturwissenschaft, um kranken Menschen zu helfen. Heute ist MBSR in vielen Kliniken verbreitet und hat sich gegen Stress, Depression, Angststörungen und Schmerzen bewährt.

Sprechstunde: Diese Techniken helfen bei Stress am besten
Sprechstunde: Raus aus der Depression  

Quelle: Auszug aus Artikel Spiegel 9.12.13

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